Von den Anzeichen eines gesellschaftlichen Kipppunktes

Ein kurzes Essay darüber warum ich glaube das wir auf einen gesellschaftlichen Kipppunkt zulaufen, der unsere Gesellschaft verändern wird. Immer zum Guten?

Wir leben in "aufregenden Zeiten"

2020 hat vieles deutlich gemacht, besonders das alte Gewissheiten nun vollends vorbei sind. Es gibt nicht wenige Menschen die sich eine Rückkehr zu einer Normalität wünschen, bei der es wohl einfacher war die aktuellen Nachrichten auszuhalten. War weit weg, betifft mich (noch) nicht, interessiert mich nicht. Nun befinden wir uns aber im siebten Monat einer weltweiten Pandemie und zu dem Zeitpunkt als ich dieses Essay verfasse melden das Robert-Koch-Institut den dritten Rekordwert an Neuinfektionen in Deutschland (Oktober 2020).

Es ist nicht so das wir arm an Problemen waren bevor die SARS-CoV2-Pandemie über die Welt, Europa und Deutschland gekommen ist, aber fungierte dieser Bruch unseres Normalen doch als Katalysator einer Entwicklung, die wir seit dem Ende der Weltwirschaftskrise 2008/2009 und die daraus entstandene Schuldenkrise im Euroraum, beobachten können.

Von was rede ich? Es verdichten sich die Anzeichen dass wir auf einen gesellschaftlichen Kipppunkt zulaufen der einiges Verändern wird. Wie komme ich zu dieser Annahme?

Kipppunkt

Fangen wir mal vorne an und klären was ein Kipppunkt überhaupt ist (Wikipedia).

Ganz allgemein ist ein Kipppunkt ein Zustand in dem sich ein System in einer instablien Position befindet und durch die kleinste Veränderung der Parameter in die eine oder andere Richtung kippen kann. Bekannt sind diese dem ein odere anderen vielleicht aus dem Physikunterricht das ein schweres Objekt nur bis zum Kipppunkt angehoben werden muss bis es von alleine umfällt (Kippmoment der Mechanik). Oder dem Techniker der das Kippmoment eines Drehstromasynchronmotors benennen kann, an dem ein solche Motor das höchste Drehmoment entwickelt (und wegen Überlast auch sehr schnell beschädigt werden kann) (Kipppunkt DASM)

Durch die Demonstrationen von "Fridays von Future" wird sicherlich auch vielen der Begriff des klimatischen Kipppunktes bekannt sein. Dieser beschreibt ein Ereigniss im Weltklima das, einmal begonnen, nicht aufgehalten oder rückgängig gemacht werden kann. (Kippelemente im Weltklima)

Gesellschaft und alte Kipppunkte

Nun komme ich also noch einmal mit einem neuen Kipppunkt um die Ecke und beziehe ihn auf nicht weniger als die gesamte Gesellschaft der europäischen und us-amerikanischen Welt. Dieser gesellschaftliche Kipppunkt ist allerdings nichts neues. Schon an vielen Stellen in der Geschichte der Welt und Europas gab es diese Punkte. Das Ende des Feudalismus zum Beispiel. Rekonstruktion nach dem Besiegen der französischen Truppen unter Napoleon. Die Neuordnung des Kontinents nach dem ersten und zweiten Weltkrieg.

Sicherlich fällt nun auf das ich bei drei von vier Kipppunkten den Ende eines Krieges aufführe und wenn man sich in der Geschichte umschaut sind auch viele Kipppunkte aus Niederlagen einer Kriegspartei entstanden. (Lest euch mal durch wie viele französische Republiken es schon gab und wann eine neue ausgerufen wurde. Spoiler: Die aktuelle (fünfte) Republik nach dem zweiten Weltkrieg.)

Aber auch nach dem zweiten Weltkrieg gab es bereits Kipppunkte. Bemerkenswert sind dabei das Kipppunkte vor den Weltkriegen häufig vorallem die Partei betroffen hat, die im Konflikt unterlegen ist, während nach dem zweiten Weltkrieg die Kipppunkte mehr und mehr europäisch wurden.

Die Studentenproteste Ende der 1960er Jahre hatten einen massiven Einfluss auf die moderen Gesellschaft. Gerne vergisst man dabei das es ähnliche Proteste auch in anderen europäischen Ländern gab, die eine liberalere Gesellschaft ermöglicht haben. In Portugal mündeten diese Proteste sogar zur Nelkenrevolution von 1974 in der die Diktatur gestürzt wurde.

Im neueren Gedächtnis wird vielen vorallem ein Kipppunkt in der europäischen Geschichte sein der ein Land in Zentraleuropa ganz besonders betroffen hat. Der Fall der Berliner Mauer der dann zur Wiedervereinigung und Ende des kalten Krieges geführt hat. Sicherlich ist dieses Beispiel aus deutscher Sicht schwer in einen europäischen Kontext zu bringen, aber ohne diese Errungenschaft würden viele osteuropäischen Länder heute nicht Teil der EU sein. Selbst eine Mitbürgerin aus Spanien konnte nun in der Sicherheit leben das nicht der thermonukleare Krieg nach dem Mittagessen über einen hereinbricht.

Alle anderthalb Generationen wieder... ein neuer Kipppunkt und seine Anzeichen

Die Anzeichen eines gesellschaftlichen Kipppunktes sind niemals eindeutig oder einfach zu bestimmen. Unser moderne Leben ist von Frieden und kulturellem Austausch auf dem europäischen Kontinents geprägt. Unsere Probleme sind selten wirklich existenzbedrohender Natur. Wir müssen nicht (mehr) unsere Heimat verlassen um Krieg, Misshandlung, Vertreibung, Hunger, Wasserknappheit,... zu entkommen. Wir sind monetär und kulturell einer der reichsten Kontinente dieses Planeten und die einzigen in denen (fast) alle Bewohner des Kontinenten die Freiheit besitzen diese auch erleben zu können. Zu verdanken haben wir das weitsichtigen Politikern, die die europäische Union immer schon auch als kulturelle Gemeinschaft verstanden haben.

Trotzdem haben auch wir unsere Probleme. National wie europäisch. Der Umgang mit den Menschen die Freiheit, Sicherheit und Stabilität für sich und ihre Familien suchen. Die Klimakrise die nicht weniger als unsere Lebensgrundlage gefährdet die andere Probleme (Hunger, Krieg, Flucht, ...) verstärkt und beschleunigt.

Das klingt jetzt alles erstmal sehr deprimierend. Die EU zeigt sich bei der Frage zur Be­wäl­ti­gung der Flüchtlingsaufgaben zerstritten und überfordert. Längt wurden Visionäre durch kurzsichtige und auf den eigenen Vorteil bedachte Personen ausgetauscht, die in der EU einen "Marktplatz" oder einen "Geldautomaten" sehen. Auch dieses Problem zeigt aber auf das wir auf den Kipppunkt zusteuern.

Drei Vorgänge möchte ich dabei besonders als Anzeichen herausheben

  1. Die Bewegung "Fridays for Future"
  2. Erstarken nationaler und populistischen Parteien
  3. Verteidigungskampf der "Das-haben-wir-schon-immer so-gemacht"

Fridays for Future

An kaum eine Bewegung der letzten Jahre kann man etwas so deutlich ablesen wie an den Protesten der Schülerinnen und Schüler: Der Generationenkonflikt. Sicherlich ist das Wort Konflikt an dieser Stelle nicht ganz der passende Ausdruck, aber fast er doch ganz gut zusammen was wir gerade sehen. Allen voran junge Menschen, Studentinnen, Schülerinnen, usw. gehen auf die Straße um gegen nicht weniger als den Status Quo zu protestieren. Sicherlich sind das keine so großen Verwerfungen wie jetzt zu Zeiten der 68er-Proteste, bei denen es (auch) um Bürgerrechte ging, aber dennoch wird unsere Form des Wirtschaftens und der Umgang mit den endlichen Ressourcen unseres Planeten in Frage gestellt der für die letzten 30 Jahre Normal war bzw. ist. Flugreisen, regelmäßig neue Autos und Smartphones, immer größere Autos (Feindbild SUV), usw. Das alles wird von den Teilnehmern an den Fridays for Future Protesten zumindest in Frage gestellt oder auch abgelehnt.

Die Proteste alleine zeigen aber nicht das unsere Gesellschaft auf eine Veränderung zuläuft sondern die Reaktionen darauf. Diese reichen von breiter Zustimmung (Parents for Future, Grandmas for Future, Scientist for Future,...) auch zu strikter Ablehnung. Interessanterweise wird von der "verteidigenden" Seite häufig eine Argumentation "ad hominem" geführt, die sich vorallem mit den medialen Protagonisten Gerta Thunberg und Luisa Neubauer (zumindest in den deutschen Medien) beschäftigen oder die Protestierenden an ihren eigenen Forderungen messen und aufzeigen das diese selbst bis vor kurzem noch nach Thailand geflogen sind.

Ein wirklicher Austausch findet so nicht statt und vertieft den Graben zusehend. Sicherleich findet man an Greta Thunberg und Luisa Neubauer Dinge zum kritisieren, das schmälert ihre Botschaft und die gesellschaftlichen Auswirkungen aber in keiner Weise. Das aufhalten an Personen, Nichtigkeiten und gegenseitiges Aufrechnen von Fehlverhalten behindert nur die dringend notwenige Diskussion und das noch dringendere ergreifen von Maßnahmen gegen die Klimakrise.

In dieser Ge­men­ge­la­ge findet nun also nicht weniger als eine Verhandlung des neuen Status Quo statt der auf einen gesellschaftlichen Kipppunkt zusteuert. Die Klimakrise wird uns auf Jahrzehnte bis Jahrhunderte noch beschäftigen, aber dennoch legen wir mit den Diskussionen heute den Grundstein für den gesellschaftlichen Umgang mit diesem Thema.

Nazis & Rechtspopulisten

Zugegeben ein Trend der nicht erst seit kurzem auf dem europäischen Kontinent auftritt, sondern leider schon seit gut 25 Jahren eine bedenkliche Entwicklung darstellt. Dennoch ist das Erstarken von rechten und Nazi-Parteien ein Zeichen für einen neuen Kipppunkt.

Gesellschaftliche Kipppunkte sind immer von einer Phase der Transformation und des Umbruch begleitet, der alte Gewissheiten in Frage stellt, alter Sicherheiten oboslet werden lässt und auch leider niemals allen Menschen zu Gute kommt. Leider stoßen in diese Lücken des gesellschaftlichen Konstrukts sehr häufig Parteien mit extremen Ansichten, die häufig mit einfachen Antworten und klaren Feindbildern auftretten. ("Der Moslem", "Der Flüchtling", "Der Pole", "Der Fremde", etc.) Sie versuchen in Zeiten die einer gewissen Instabilität ausgesetzt sind, diese durch eigene Themen zu stabilisieren und den Leuten eine einfache Lösung für ein meist hochkomplexes Problem zu liefern ("Absaufen" vs. ordentlicher Flüchtlingspolitik).

Sie machen sich dabei natürlich auch einen Angriffspunkt jeder Demokratie zu nutze: die Konsensfindung. Indem sie lauter brüllen und mehr mediale Aufmerksamkeit bekommen werden diese Gedanken einem weiten Feld von Menschen zugänglich gemacht. Und jeder von uns ist in unsicheren Zeiten anfällig für einfache Lösungen. Das hat auch nichts mit Bildung oder sozialer Absicherung zu tun. Wenn ein Ingenieur gesagt wird das sein gut bezahlter Arbeitsplatz nun bald in Osteuropa ist oder das die gesamte Branche ihn nicht mehr braucht, dann macht das Angst und kann dann zum falschen Abbiegen führen. Diese Menschen sind keine Nazis, sie sind nur Nazis "auf den Leim gegangen".

Nazis hoffen immer das ihnen ein Coup gelingt wie 1933 als die Instabilität der Weimarer Republik dazu geführt hat das diese den Reichskanzler, mit dem Namen Adolf Hitler, stellen konnten. Sicherlich ist unsere heutige Demokratie stabiler und wehrhafter als die erste von 1918-1945 (Die Verfassung der Weimarer Republik war die gesamte Zeit der Nazi-Herrschaft gültig, nur defacto außer Kraft gesetzt Siehe Reichsermächtigungsgesetz), aber dennoch ist eine verstärkte Aktivität und At­trak­ti­vi­tät dieser Menschen- und Demokratiefeinde ein Zeichen für einen kommenden Kipppunkt.

Sidenote: Die AfD ist eine Nazipartei!

DaS HabEn wIr sChoN iMmER sO gEmAchT

Kein Satz mit dem man seinen Unwillen zu Veränderung besser ausdrücken kann. Und auch wenn der geneigten Leserin nun klar sein sollte was ich von diesem Satz halte, möchte ich ein Thema das ich oben bei Fridays for Future schon aufgegriffen habe weiter ausführen, den sogenannten Generationenkonflikt.

Viele Menschen der Generation 50+ sind in großer wirtschaftlicher und politischer Staiblität aufgewachsen die kommenden Generationen zunehmend wie ein Traum vorkommen muss. Ein sicherer Arbeitsplatz, die keine Befristungen, keine ewigen Praktika und keine Unsicherheit kennt. Das fehlende Verständnis für den Umstand, dass die Arbeitswelt für Berufseinsteiger (auch so ein bescheuertes Wort wie Generationen"konflikt") nicht mehr wie in den 80er und 90er ist.

Ein Studium befähigt einem nicht mehr automatisch dazu einer Arbeit nach zu gehen. Stellenausschreibungen die voll davon sind das sich nur Personen "mit Erfarhung" bewerben sollen. Volontariate in namhaften Verlagen die als Ausbildung (vgl. §26 BBiG) laufen und damit für ein Jahr befristet nicht einmal den Mindestlohn zahlen müssen.

Wenn nun eine ganzen Generation auf diesen Missstand aufmerksam machen wird es häufig von Personen die seit 25 Jahren der gleichen Tätigkeit nachgehen, abgedroschen mit dem Hinweis das man "sich nicht so anstellen soll" oder das "die Welt halt ungerecht ist". Die Krönung solche ignoranter Aussagen sind dann häufig noch das Kleinreden von Ausbildungen ala "hättest halt was anständiges gelernt".

Der geistige Reichtum den unsere Geselschaft, besonders durch humanistische Studiengänge, erlangt hat wird dabei negiert und alles auf die eindimensionale Eigenschaft des "Geldverdienen" reduziert. Auch wird ausgebledent das eine Studienabschluss häufig früher schon Qualifikation genug war um jemanden eine Chance zu geben. Heute wird nach dem Bewerber gesucht der bereit ist für ein unterdurchschnittliches Gehalt, die Arbeit für Zwei erledigt, dabei kein Problem hat alles an sozialen Kontakten aufzugeben um in eine fremde Stadt zu ziehen und genau ein Praktikum in dieser hochspezialisierten Branche gemacht hat. Interessanterweise beschwert sich die Wirtschaft immer auch wieder darüber das sie keine Bewerber finden...

Sicherlich ist das nur eine Facette zeigt aber doch auf das wir in den Generationen zunehmend in unterschiedlichen Realitäten leben. Auf der einen Seite die Satten, die alles haben, die auch Angst haben alles zu verlieren und auf der anderen Seite Leute die diese Sicherheit nicht kennen.

Dabei spielt übrigens nicht nur die Verdienstchancen eine Rolle sondern auch der Wunsch nach Selbstwirksamkeit und das schaffen von "Bullshit-Jobs", wie es der leider im September 2020 verstorbene Autor David Graeber in seinem gleichnamigen Buch beschrieben hat.

Diese Entwicklung ist die am schwersten greifbare und damit auch eine der stärksten Anzeichen für einen kommenden gesellschaftlichen Kipppunkt. Sicherlich gibt es noch dutzende Beispiele die man hier aufführen könnte, aber jeder bleibt in seiner Eigenheit diffus und doch sind alle zusammen ein starkes Anzeichen.

Quo vadis?

"Wohin gehst du?" lautet der berühmte lateinische Ausspruch. Und genau diese Frage müssen wir uns als Gesellschaft in unserer zukünftigen Entwicklung stellen. Wir stehen am oder kurz vor einem Scheideweg der unsere Gessellschaft für die kommende Generation prägen wird. Es wird viel Schmerz geben. Viel Angst. Viel Streit. Nicht jeder wird am Ende sich als "Sieger" der Veränderung fühlen.

Wir tappen mehr und mehr im Nebel. Alte Gewissheiten der Politik brechen weg (die USA als verlässlicher tranatlantischer Partner), die große Branche der Automobilhersteller befindet sich so tief wie noch nie in der Krise und die verschlafene Transformation wird nun versucht mit viel Geld nachzuholen, die extremen Meinungen nehmen zu und wir verlieren Menschen komplett in der Komplexität der Diskussion. Wir müssen über viele, viele Themen Gespräche führen ohne zu wissen ob diese eine Auswirkung haben und wie diese aussieht.

Es liegt an uns allen, als Gesellschaft, mit einer Stimme bei einer Wahl die Richtung des Kipppunktes zu bestimmen. Durch politisches Engagement oder das diskutieren eines Satzes:

"In was für einer Gesellschaft wollen wir leben?"